Untertan Napoleons
Der zukünftige Pfarrer Georg Friedrich Lucius, Gründer unserer Schule, ist geboren 1787, zwei Jahre vor der französischen Revolution 1789. Damals war Napoleon zwanzig Jahre alt. Als Georg Friedrich seinerseits neunzehn Jahre alt war, wurde 1806 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation von dem siebenunddreissigjährigen Napoleon aufgelöst. Geboren 1769, war Napoleon achtzehn Jahre älter als Pfarrer Lucius. So haben er und der französische Staat auf das Leben unseres Schulgründers bis zu dessen neunundzwanzigstem Lebensjahr (1816) merkbaren Einfluss genommen.
Als Pfarrerssohn in Neunkirchen im Saarland geboren, wurde er, sechsjährig, ein Jahr nach der Strafversetzung seines Vaters nach Jugenheim und dem Umzug der Familie dorthin, französischer Staatsbürger, da Jugenheim ja nach seiner Annexion zum Staatsgebiet der Ersten Französischen Republik gehörte, als deren Gemeinde gelegen im damaligen Département Mont Tonnerre (Donnersbergkreis). Dessen nahegelegene (17 km) Verwaltungshauptstadt war M a y e n c e (M a i n z). Es war auch der napoleonische Staat, der Pfarrer Lucius 1813 die Lehrerlaubnis entzog. Später wurde er – durch Vermittlung seines Onkels in Paris – durch ein persönliches Dekret Napoleons, des Kaisers der Franzosen, vom französischen Militärdienst freigestellt.
Desweiteren hatte die nach Rheinhessen eingedrungene französische Soldateska 1793, als er sechs Jahre alt war, das elterliche Pfarrhaus in Jugenheim geplündert. Solche Plünderung hatten die Bewohner in den folgenden Jahren fünfmal zu erleiden. Durch die Plünderer sahen sie sich jedesmal in Todesangst versetzt. Im übrigen waren lutherische Pfarrer – wie sein Vater und er – sowieso bevorzugte Zielscheiben von Schikanen der französischen Staatsorgane.
Aus diesen Gründen war Georg Friedrich, der zwar – wie seine Mutter und wie sein Onkel in Paris – französisch sprach, doch geschworener Franzosenhasser, zumal er obendrein ausgemachter Gegner aller von Frankreich unterstützter demokratischer Bewegungen war, welche die von ihnen als solche eingeschätzten Wohltaten der Revolution in Paris auch in die angrenzenden Länder tragen wollten.
Bevor wir nun mit der Schilderung des Lebens und der Lebenswelt unseres Schulgründers fortfahren, sollten wir uns einen Moment vor Augen halten, dass er (gestorben 1863) zwar die Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 um acht Jahre hat verpassen müssen, sonst aber Zeitgenosse aller bedeutenden und folgenreichen Ereignisse des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland gewesen ist. Er ist zwei Jahre vor dem Beginn eines neuen europäischen Zeitalters (1789) geboren. Alle daraus und darauf folgenden aufregenden Ereignisse und Veränderungen hat er, auch als Augenzeuge, erlebt; so die wiederholte Zwangseinquartierung französischer, preußischer und russischer Soldaten in seinem Heimatdorf Jugenheim; eine Kindheit und Jugend als französischer Staatsbürger; die kurzlebige Existenz einer jakobinischen Gewaltherrschaft in der einzigen benachbarten Stadt Mainz; eine Berufstätigkeit als von Kaiser Napoleon bestätigter und besoldeter Pfarrer; den Rückzug der in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagenen Napoleonischen Armee durch sein Pfarrdorf Nierstein über den Rhein; bald darauf Siegesfeiern am Rheinufer nach dem alliierten Sieg bei Leipzig und dem Einrücken der siegreichen Preussen und Russen; mit achtundzwanzig Jahren – ab 1814 – Berufung zum hessischen Pfarrer und nun Leben als Untertan des Grossherzogs von Hessen; Zeuge des gescheiterten Versuchs der Gründung eines deutschen Reiches 1848.
Diese skizzierten Ereignisse bilden einen Teil des Lebensrahmens, den Hintergrund der persönlichen Erfahrungen, die sein Leben ausmachten.
Aus dem stillen Dorf in die Residenzstadt
Der vorige Abschnitt dieser Lebens- und Berufsskizze soll der Leserschaft des Newsletters den geschichtlichen Rahmen abstecken, innerhalb dessen unser Schulgründer (achtundzwanzig Jahre jünger als G o e t h e ) gelebt und gewirkt hat.
Damals war ausser einer aus Belesenheit stammenden allgemeinen, ( auch eingeschränkten mathematischen und naturwissenschaftlichen) Bildung die vollkommene Beherrschung der lateinischen und das Verständnis der altgriechischen sowie die Kenntnis der althebräischen Sprache für einen guten Theologen eine Selbstverständlichkeit. Die Hauptfächer für die Grundbildung des Gymnasiums waren Latein und Griechisch; so erklärt es sich auch, dass Georg Friedrichs Vater seinen Sohn allein durch selbsterteilten Unterricht auf den Eintritt in die Oberstufe des renommierten Weilburger Gymnasiums vorbereiten konnte. Bei seinem Eintritt, 1804, war Georg Friedrich – Rufname Fritz – sechzehn Jahre alt und machte zwei Jahre später, 1806, dort Abitur. Zum Zeitpunkt seines Eintritts ins Gymnasium waren seine Eltern durch die gründlich bewerkstelligten Plünderungen sehr verarmt. Deswegen konnte der jetzt geplante, kostenpflichtige Schulbesuch des Jungen nur mit fremder Hilfe zustande kommen; und zwar so, dass er in seinem neuen Schulort Weilburg umsonst bei der kinderlosen Familie des Stiefbruders seiner Mutter wohnen und leben durfte.
Die Leserschaft dieser Zeilen sollte sich klarmachen, dass die not-wendige Reise zur Umsiedlung von Jugenheim nach Weilburg im Jahr 1804 , ohne Eisenbahn, Tage dauerndes Zurücklegen einer Fahrtstrecke von mindestens 120 Kilometern mit einer Pferdekutsche auf oft löchrigen Strassen bedeutete. Und weiterhin: die erstmalige Unterbringung in einer fremden Stadt bei einem älteren Ehepaar ohne Kinder und ohne Möglichkeit einer telephonischen Verbindung nach Hause: Man muss sich mal vergegenwärtigen, wieviel Mut und Entschlossenheit in dieser Situation bewiesen werden mussten von diesem sechzehnjährigen Jungen, dessen Lebenswelt bis dahin die engste Familie und das winzige Bauerndorf gewesen waren!
Er sah sich nun versetzt in die Residenzstadt eines Fürsten, in „ein vornehmes Haus, in welchem alles mit bürokratischer Pünktlichkeit und Exaktheit geordnet war und in den Formen der feinsten Hofetikette sich bewegte“.Und wenn am Anfang der bisherige Dorfbewohner sich nur mit Mühe in diese Welt hineinzuzwingen vermochte, so halfen ihm bald „sein Gefühl für Anstand und Sitte sowie die Nachsicht seiner Pflegeeltern“ über erste Schwierigkeiten hinweg. Doch hatte er seine spätere Leichtigkeit und Gewandtheit im Umgang mit aller Art von Mitmenschen vorzugsweise dem Aufenthalt in diesem Hause zu danken.
Der erste Internatsschüler
Dank überragender Kenntnisse konnte Georg Friedrich schon zweieinhalb Jahre später – nach dem Abitur am Weilburger Gymnasium – auf die theologische Fakultät der Universität Giessen übergehen.
Dem „wilden, wüsten“ Treiben der dortigen Studentenschaft entzog er sich durch ein zurückgezogenes, dem Studium gewidmetes Leben. Geldliche Unterstützung durch ein erhofftes Stipendium stand ihm dann doch nicht zur Verfügung. Mit einundzwanzig Jahren, 1808, kehrte er nach Abschluss seiner zweijährigen Studien zu den Eltern nach Jugenheim zurück, um sich auf sein erstes theologischesExamen vorzubereiten, das er mit 22 Jahren, im Januar 1809 bestand. Ende desselben Jahres erhielt er, zweiundzwanzigjährig, von Napoleon bestätigt und besoldet, seine Berufung auf eine Pfarrstelle an der kleinen Gemeinde Nierstein am Rhein (ca. 60 km v. Jugenheim).
Seine Eltern hatten während der studienbedingten Abwesenheit ihres Sohnes Fritz einen Verwandten, den elfjährigen Karl Anschütz, zu sich ins Haus genommen. Wie muss dieser Junge sich gefreut haben, als er erfuhr, dass er bei der Oma ausziehen und bei seinem jungen Onkel in Nierstein einziehen und nicht nur in Pension leben durfte, sondern dass dieser junge Mann ihn auch unterrichten werde!
1809 ist also das Jahr, in dem der erste Internatsschüler in einem Lucius-Haus aufgenommen wurde. Und deswegen haben wir auch vor 14 Jahren, im Sommer 2009, unser zweihundertjähriges Jubiläum gefeiert. Bei dem einen Schüler blieb es natürlich nicht, und was daraufhin passierte, davon gibt es im nächsten Newsletter zu lesen.
Reinhard Lucius